Des Kaisers neue Völker. Jugend, Jugendbewegung und Kolonialismus

Des Kaisers neue Völker. Jugend, Jugendbewegung und Kolonialismus

Organisatoren
Archiv der deutschen Jugendbewegung
Ort
Witzenhausen
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.10.2005 - 30.10.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Susanne Rappe-Weber, Archiv der deutschen Jugendbewegung

Was haben der Wandervogel und der Kolonialismus, die zeitgleich die Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs bewegten, miteinander zu tun? Diese Frage ist in der Geschichtswissenschaft so bislang nicht gestellt worden und stellte somit nicht nur für die 36. Jahrestagung des Archivs der deutschen Jugendbewegung vom 28. bis 30. Oktober 2005 Neuland dar. Unter dem Titel „Des Kaisers neue Völker. Jugend, Jugendbewegung und Kolonialismus“ wurde diskutiert, auf welche Weise jugendliche Angehörige der deutschen Großmacht den fernen Völkern in der Realität oder in Imaginationen von Krieg, Unterdrückung und faszinierender Exotik begegneten.1 Besondere Akzente setzten die auf der Tagung vorgestellten Umsetzungen des Themas in Literatur, Film und Theater.

Als die Kolonialzeit Deutschlands 1918 endgültig zu Ende ging, hatte sie nur für die kurze Zeit von gut 30 Jahren bestanden. Die in dieser Zeit geprägten Mythen und Bilder entfalteten dagegen eine lang anhaltende Wirkungsmacht. Vorstellungen von der Überlegenheit der Europäer in Übersee und der niedrigen Entwicklungsstufe der dortigen Bevölkerungen sind über Bücher und Lieder, Zeitschriften und Filme in Deutschland bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts präsent geblieben. Jugendliche wuchsen weiterhin mit „Heia Safari“, dem „Sarotti-Mohr“ und „Nicknegern“ auf – Holzfiguren, die in Kirchen für die Mission sammelten und sich dafür mit einem Kopfnicken bedankten. Selbst die Entwicklungspolitik und Solidaritätsaktivitäten für die „Dritte Welt“, die seit den 1960er-Jahren die koloniale Haltung gegenüber der Südhalbkugel ablösten, trugen häufig kulturmissionarische Züge und ersetzen noch nicht eine Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte und deren Wirkungen.

Erst mit der derzeit medienpräsenten Erinnerung an die 100 Jahre zurückliegenden Kolonialkriege, die das Deutsche Reich in Ost- und Südwestafrika führte, werden jetzt Impulse für eine stärkere Wahrnehmung der kolonialen Vergangenheit und ihrer bis heute sichtbaren Spuren gegeben (Daniel Caspari, Siegen). In diesem Kontext plädierte Jürgen Reulecke (Gießen), der die Tagung zusammen mit Gudrun Fiedler (Braunschweig) leitete, für das Überdenken und bewusste Ablegen überholter Afrikabilder. Welche bis heute meist unbewussten Traditionen dabei wirken, zeigte Michael Schubert (Osnabrück) anhand der Kolonialpublizistik bis in die 1930er-Jahre.

Der Schriftsteller Hermann Schulz, der bis 2001 als Verleger das entwicklungspolitisch geprägte Programm des Peter Hammer Verlages konzipiert hat, verkörpert das neu erwachte Interesse für den historischen Alltag und das menschliche Miteinander in den Kolonien. In seinen Romanen, aus denen er zu Beginn der Tagung las, lässt er afrikanische Frauen und Männer, aber auch Kinder über ihre Begegnung mit den Weißen zu Wort kommen, was manchmal durchaus komisch verlief.

Als ein Held der Jugendbewegung kann Hans Paasche gelten, der als einer der Wenigen die Problematik der kolonialen Eroberungen genau wahrnahm und kritisch reflektierte. Paasche, der 1920 von der rechtsextremen Brigade Ehrhardt ermordet wurde, hatte Ost-Afrika als Großwildjäger und als Marineoffizier im Maji-Maji-Krieg kennen gelernt und setzte sich in seinen Schriften, unter anderem in der Zeitschrift „Vortrupp“ und mit dem Roman "Lukanga Mukara", für den Schutz der afrikanischen Ethnien und der Natur ein (P. Werner Lange, Berlin; Bernhard Gissibl, Bremen).

Unter der Rubrik „Auf neuen Pfaden“ ging es um die Wurzeln des Pfadfindertums im Kolonialismus. Nicht nur der englische Gründer Lord Robert Baden-Powell, sondern auch die beiden deutsche Pfadfinderväter Maximilian Bayer und Alexander Lion, die seit 1909 für die Pfadfinderei in Deutschland warben, entstammten dem Korps der Kolonialoffiziere und hatten am Herero-Krieg in Deutsch-Südwestafrika teilgenommen. Ihr Interesse galt ursprünglich der Heranbildung einer leistungsfähigen und gesunden Kolonialjugend, die an der Besiedlung des schwarzen Kontinents tatkräftig mitwirken sollte (Stephan Schrölkamp, Berlin).

Nach 1918 propagierte die Kolonialbewegung eine Wiedererlangung der verlorenen Gebiete und versuchte dafür auch die Jugend in Deutschland zu gewinnen, in Zeitschriften wie „Jambo“ oder durch die Organisation von Jugendgruppen wie den „Kolonialpfadfindern“ (Winfried Speitkamp, Gießen; Oliver Schmidt, Münster). Das rassistische Weltbild der Nationalsozialisten bot der Kolonialbewegung zunächst Aufwind für ihre Aktivitäten, so in der verstärkten Ausbildung von Tropenmedizinern (Marion Hulverscheidt, Kassel). Doch lag das vorrangige Expansionsziel im europäischen Osten und die Wiedereroberung Afrikas wurde nach 1933 vorwiegend als Medienschlacht geführt. Die Bearbeitung des aus der bündischen Jugend stammenden Films „Deutsches Land in Afrika“ zu einem NS-Propagandastreifen (Kommentar: Norbert Schwarte, Gießen) wie auch der Unterhaltungsfilm der UFA „Germanin – Die Geschichte einer kolonialen Tat“ dienten dazu, die Deutschen als gute koloniale Schutzherren zu rehabilitieren und für eine künftige Aufteilung der Welt in Stellung zu bringen.

Die Deutsche Kolonialschule in Witzenhausen, nur 10 Kilometer vom Tagungsort Burg Ludwigstein entfernt, spiegelt alle Etappen der großen Geschichte wieder. 1898 als zentrale Einrichtung für die Ausbildung von Siedlern und Kolonialbeamten gegründet, musste die Schule nach 1918 ihre Zielsetzung immer wieder neu bestimmen. Seit 1971 werden am Fachbereich „Tropische und Subtropische Landwirtschaft“ der Gesamthochschule Kassel in Witzenhausen Stipendiaten aus Übersee und deutsche Studierende für eine landwirtschaftliche Tätigkeit in Asien, Afrika oder Südamerika ausgebildet (Eckhard Baum u. Mechtild Rommel, Witzenhausen).

Phantasien von Fremde und Ferne, die junge Generationen umtrieben, speisten sich überwiegend aus Erzählungen und Liedern. Konkrete Erfahrungen in Übersee machten nur die Wenigsten, doch sind viele Stereotype bis heute präsent. Dagegen setzte Hans-Werner Kroesinger (Berlin) eine Präsentation seines gefeierten Theaterstückes „Herero 100“.

Ein besonders inniges Verhältnis zwischen der Jugendbewegung und dem Kolonialismus als Ideologie, so ein wichtiges Ergebnis der Tagung, hat es nicht gegeben, wohl aber vielfältige Verbindungen zwischen der Jugend und den Kolonien. Das Archiv der deutschen Jugendbewegung auf der Burg Ludwigstein zeigt dazu noch bis Mai 2006 eine umfassende Ausstellung: von Hans Paasche, dem schon 1921 auf dem Ludwigstein eine Linde gewidmet wurde, über den Ur-Wandervogel Karl Fischer, der versuchte, die Chinesen für das Wandern nach Wandervogelart zu begeistern, den Pfadfindergründer Alexander Lion, die Afrikafahrer von der Burg Waldeck, Kolonialschüler auf dem Ludwigstein bis zu Hugo Höppener-Fidus, der ein Buchplakat unter dem Titel gestaltete: „Wozu hat Deutschland eigentlich Kolonien?“. Gute Frage!

Anmerkungen:
1 Programm bei H-Soz-u-Kult unter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=4415


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts